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Leseproben

Der Fall der Festung Chagre

(Piratengeschichte)



Gelegentlich hat Sibelius Morgenstern Halluzinationen einer ganz besonders unwillkommenen Art. Der ehemalige Priesterzögling und verkrachte Medicus hört dann Stimmen, Männerstimmen, vom Bass bis zum Falsett, wundervoll harmonisch gesetzt und kräftig, und deren Oratorium erhebt sich wie ein Kelch der Reinheit in den sakral gefärbten Abendhimmel über Port Royal.
Dann wagt er kaum zu atmen, um nicht auch noch den betäubenden Duft von Weihrauch zu empfangen, dort auf der Hafenmole, wo es normalerweise nur nach heißem Teer, toten Fischen, Katzenpisse und Seetang riechen dürfte.
An diesem Abend, da er als einer der letzten Männer von Bord des Piraten-Schoners „Queen Annes Revenge“ geht, ist es wieder so weit. Sibelius, eigentlich ein großer Mann, der sein Haupt gewöhnlich so hoch erhoben trägt, wie es einem gebildeten Zyniker ansteht, zieht die Schultern hoch, macht den Rücken krumm und zerrt sich die Kapuze seiner Mönchskutte über den Kopf.(...)

Die Heilerin

(Kurzgeschichte)

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Señora Azucena Flores Montalban lebte verhältnismäßig ruhig und angenehm in einem Anden-Städtchen namens Guachinango, dessen schiefergedeckte Steinhäuser sich auf einem schmalen Hochplateau so dicht aneinander drängten wie eine Herde Vicuñas im Schneesturm.

In der urbanen Gemeinschaft genoss Azucena beachtliches Ansehen, und seit die sandfarbenen Berg-Pumas das Dach ihrer Behausung zum bevorzugten Aufenthaltsort während der kalten Morgenstunden erwählt hatten, war sogar noch eine gehörige Portion Respekt dazu gekommen. Die verheirateten Frauen akzeptierten die Bruja zwar nicht ohne eine gewisse Einschränkung, achteten sie aber dennoch und schätzten ihre geheimnisvollen Künste. Die Männer besaßen eine instinktive Scheu vor der Heilerin und gingen ihr möglichst aus dem Weg, obwohl sie sich den ausgeprägten weiblichen Reizen der Señora Montalban nicht verschließen konnten. Ihr wohlproportionierter Körper strahlte sowohl Sinnlichkeit als auch Emotionalität aus, und Azucenas klare, beinahe herbe Gesichtszüge verliehen ihr die edle Würde einer andalusischen Adelsfrau.(...)

​Das Menetekel
(Novelle)

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​1. Jerusalem



Im Studierzimmer des Rabbi Meir herrscht staunenswertes  Chaos und allgegenwärtiger Verfall. Ein modriger Geruch entströmt Hunderten von wahllos aufeinander getürmten, uralten Büchern und Manuskripten. Die abgestandene Luft enthält zusätzlich eine säuerliche Komponente, deren Ursprung vermutlich in der mangelnden Körperpflege des Schriftgelehrten zu suchen ist. Abwechselnd wirft der alte Mann prüfende, misstrauische Blicke auf die Papiere in seiner Hand und auf seinen ungewöhnlichen Besucher.
       „Hören Sie, Abbé Barruel,“ sagt er dann mit knarrender Stimme, „ wollen Sie sich einen Scherz auf Kosten eines armen, alten Rabbiners erlauben? Diese Protokolle und Berichte hier sind absolut unglaubwürdig, hahnebüchen, geradezu haarsträubend! Allerdings muss ich trotz deren  thematischer Absurdität zugeben, dass sie in einwandfreiem Althebräisch verfasst sind. Bemerkenswert. Woher stammen diese seltsamen Texte?“
        Der Pater in seiner Benediktinerkutte rutscht auf dem abgeschabten Ledersessel herum. (...)

Tarockn´Roll

(Roman)

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1. Kether oder der Narr

Es ist noch gar nicht lange her, da schlug nicht nur die Stunde der Wahrheit, sondern auch die letzte Stunde der gesamten Menschheit.
Das Dramatische daran war, dass zu diesem Zeitpunkt noch kein Mensch auch nur die geringste Ahnung davon hatte.
Jedenfalls kann sich die Bevölkerung des Planeten Erde heute glücklich preisen, dass gegen Ende des zweiten Milleniums ein ehemals berühmter Rockmusiker namens Hans Harlaching den Entschluss fasste, ein kraftvolles Comeback als Magier und Kartenleger zu versuchen.   

Seine Erfolge in dieser Branche waren zu Beginn nicht besonders spektakulär, aber immerhin fühlten sich sehr bald schon einige Menschen veranlasst, Hans mit diverser Fanpost zu erfreuen.
Auch an diesem Morgen fand sich wieder eine dieser Grußadressen in seinem Briefkasten, und sie war folgenden Wortlautes:

Bloß, weil du unseren Schlampen die Karten legst, heißt das noch lange nicht, dass du sie hinterher gratis flach legen kannst. Beim nächsten Mal wirst du platt gemacht!
Die rote Hand.

Im Grunde war dies die erste Berührung Harlachings mit einem Geheimbund, obwohl die rote Hand als operatives Organ der örtlichen Luden mit dem global operierenden Illuminaten-Orden eigentlich sehr wenig zu tun hatte. Nennen wir es einen signifikanten Zufall, eine Art Auftakt.

Die wahre Bedrohung für Leib und Leben des Kartenlegers Hans Harlaching erwuchs aus einer geschäftlichen Verbindung ganz anderer Art, einer Schwarzarbeit im wahrsten Sinne des Wortes, die in einen titanischen Kampf der Magier im  Wettlauf gegen die Zeit münden sollte.
Den eigentlichen Beginn jener dramatischen Geschehnisse zum Wechsel des Jahrtausends markierte eine relativ ungewöhnliche Anfrage, die den selbsternannten Meister des Tarot in einer außergewöhnlich klaren Vollmondnacht erreichte. (....)

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